Wer bin ich ohne meine Rollen? Selbstfindung jenseits von Erwartungen

Auch Rollen kleben an uns

Gestern stand ich in der Schlange im Supermarkt hinter einer jungen Mutter. Ihr Kleinkind quengelte, der Säugling im Kinderwagen weinte, und sie jonglierte zwischen Schnuller, Einkaufszettel und dem Versuch, beruhigend auf beide Kinder einzureden. Als sie endlich draußen war und ich sie durch das Fenster beobachtete, sah ich, wie sie einen Moment lang einfach nur dastand – erschöpft, verloren, als würde sie sich fragen: „Wer bin ich eigentlich noch?“ Dieser stumme Moment der Orientierungslosigkeit ließ mich nicht mehr los und brachte mich zu einer Erkenntnis, die uns alle betrifft.

Die Masken, die zu unserem Gesicht geworden sind

Wir alle sammeln sie im Laufe unseres Lebens: diese Rollen, die uns Struktur geben und gleichzeitig einengen. Mutter, Ehefrau, Tochter, Freundin, Nachbarin, Vereinsmitglied. Schicht um Schicht legen wir sie übereinander, bis wir manchmal nicht mehr wissen, wo die Rolle aufhört und wir selbst anfangen.

Diese Rollen sind nicht schlecht – im Gegenteil. Sie geben uns Bedeutung, Zugehörigkeit, einen Platz in der Welt. Doch irgendwann verschmelzen wir so sehr mit ihnen, dass wir vergessen, dass wir sie einmal bewusst gewählt oder übernommen haben. Sie werden zu unserem vermeintlichen Ich, und die Vorstellung, ohne sie zu existieren, löst eine tiefe Verunsicherung aus.

Der erschreckende Blick in den Spiegel ohne Rollen

Wer wäre ich ohne meine Aufgaben? Diese Frage ist wie ein Sprung ins kalte Wasser. Denn plötzlich stehen wir nackt da, ohne die gewohnten Etiketten, die uns definieren. Keine fürsorgliche Mutter mehr, keine treue Freundin, keine hilfsbereite Nachbarin – nur noch wir selbst.

Für viele Menschen ist dieser Gedanke beängstigend. Wer bin ich, wenn ich nicht gebraucht werde? Wenn niemand meine Hilfe benötigt, wenn meine To-Do-Liste leer ist, wenn alle Verpflichtungen wegfallen? In dieser scheinbaren Leere liegt aber eine kostbare Möglichkeit verborgen: die Begegnung mit unserem authentischen Selbst.

Die Verwechslung von Tun und Sein

Unsere Gesellschaft hat uns gelehrt, dass wir das sind, was wir tun. „Was machst du beruflich?“ ist oft die erste Frage, die wir neuen Bekannten stellen. Wir definieren uns über unsere Aktivitäten, unsere Leistungen, unsere Funktionen für andere. Dabei übersehen wir etwas Fundamentales: Wir sind nicht unsere Rollen.

Eine Mutter zu sein ist etwas, was ich tue – aber es ist nicht alles, was ich bin. Eine Freundin zu sein ist eine Rolle, die ich ausfülle – aber dahinter existiert noch jemand anders. Dieser Jemand war schon da, bevor ich all diese Rollen übernommen habe, und wird auch noch da sein, wenn sie sich wandeln oder wegfallen.

Die Befreiung durch bewusstes Rollenspiel

Stell dir vor, du könntest deine Rollen wie Kostüme betrachten. Morgens ziehst du das Kostüm der liebevollen Partnerin an, mittags schlüpfst du in die Rolle der fürsorglichen Tochter, abends wirst du zur verständnisvollen Freundin. Aber zwischen all diesen Kostümwechseln gibt es Momente, in denen du einfach nur du selbst bist.

Diese Momente sind kostbar. Vielleicht sind es die fünf Minuten morgens mit dem ersten Kaffee, bevor der Tag beginnt. Oder der Moment abends, wenn alle schlafen und du noch einmal durchatmest. In diesen stillen Augenblicken kannst du dich selbst spüren – jenseits aller Erwartungen und Verpflichtungen.

Der unveränderliche Kern in uns

Unter all den Schichten unserer Rollen liegt etwas Beständiges: unser Wesen. Es ist wie ein ruhiger Grund eines Sees, der auch dann stabil bleibt, wenn an der Oberfläche Wellen toben. Dieser Kern trägt unsere ureigenen Eigenschaften: vielleicht unsere Neugier, unsere Art zu lieben, unser Humor, unsere Intuition.

Diese Essenz gehört uns ganz allein. Sie ist nicht abhängig davon, ob wir heute eine gute Mutter waren oder ob wir alle Erwartungen erfüllt haben. Sie ist einfach da, konstant und unveränderlich, wie ein innerer Kompass, der uns zeigt, wer wir wirklich sind.

Das Geschenk der Rollendistanz

Wenn wir lernen, uns weniger stark mit unseren Rollen zu identifizieren, geschieht etwas Befreiendes: Wir werden authentischer in ihrer Ausführung. Eine Mutter, die weiß, dass sie mehr ist als nur Mutter, kann entspannter mit ihren Kindern umgehen. Eine Freundin, die sich nicht vollständig über ihre Hilfsbereitschaft definiert, kann ehrlicher Nein sagen, wenn es nötig ist.

Das bedeutet nicht, unsere Rollen weniger ernst zu nehmen. Im Gegenteil: Wir können sie bewusster und freier gestalten, weil wir nicht mehr aus der Angst heraus handeln, unsere Identität zu verlieren. Wir sind dann nicht mehr Gefangene unserer Rollen, sondern ihre bewussten Gestalter.

Der tägliche Tanz zwischen Rolle und Sein

Jeden Tag haben wir aufs Neue die Möglichkeit, bewusst zu wählen: Lassen wir uns von unseren Rollen leben, oder leben wir bewusst mit ihnen? Können wir sie als Ausdrucksformen unseres Wesens verstehen, ohne uns vollständig in ihnen zu verlieren?

Es ist ein lebendiger Tanz zwischen Engagement und innerer Freiheit, zwischen Verantwortung und Selbstbewahrung. Und vielleicht liegt genau in diesem bewussten Tanz der Schlüssel zu einem erfüllteren Leben – einem Leben, in dem wir nicht nur funktionieren, sondern wahrhaftig leben.

„Das Geheimnis des Glücks liegt nicht darin, immer das zu tun, was man will, sondern zu wollen, was man tut – und dabei nie zu vergessen, wer man jenseits all dessen ist.“ – Epiktet

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